Ausstellung „Vier“, Kunst im Turm, 31. Mai 2008
„Die Einfachheit der Form entspricht nicht unbedingt einer Einfachheit der Erfahrung“, sagt
der Minimalist Robert Morris. Und die Zahl Vier und diese Ausstellung zum Thema „Vier“
zeigt uns, dass das scheinbar einfache Konzept von vier Seiten, von vier Formen, von vier
Farben, von vier Themen eine große Vielschichtigkeit in sich birgt.
Das führt uns sehr eindringlich und prägnant Dorothea Feldkamp vor, deren
Schmuckobjekte von der Vierschichtigkeit in die Vielschichtigkeit übergehen. Vier Formen,
vier Farben, vier Themen, vier Schichten. Kette, Ring, Brosche oder Ohrring, in wechselnder
Farbigkeit und mit unterschiedlichen Materialien, und doch als Einheit komponiert. Wenn
eine Künstlerin, ein Künstler eine multiple modulare Methode verwendet, wählt sie/er
normalerweise eine einfache, begrenzte und bereits verfügbare Form. Die Form selbst hat
dabei oft nur eine eingeschränkte Bedeutung. Eher geht es dabei um die Grammatik des
gesamten Werkes. Zum Beispiel sind die Grundform und der Aufbau der Ohrringe immer
gleich, aber es verändert sich der innere Aufbau in Material und Technik, damit gewinnt das
gesamte Arrangement eine eigene Dynamik und Varianz. Oder die Broschen, die von klar
definierter, quadratischer Form sind und doch als Thema die Bewegung, die Wanderung und
den Werdegang des Lebens in sich tragen.
Mit der Präsentation im Viererfeld und in den Glaskuben wird immer wieder das Quadrat als
ordnende, universale Größe thematisiert und die Zahl Vier potenziert.
Das Quadrat ist auch das zentrale Kompositionsmittel der Arbeiten von Marlies Müller-
Kaufmann . Sie hat sich für das Quadrat entschieden und damit für eine geometrische
Grundform, die sich durch ihren Richtungsausgleich von Waagerechten und Senkrechten
auszeichnet. Aufgrund seiner absoluten Symmetrie und seinem Richtungsausgleich
vermittelt das Quadrat einen hohen Ausdruck von Ruhe und Geschlossenheit, ist Sinnbild für
Ordnung und Harmonie und Zeichen des Absoluten; deshalb war das Quadrat insbesondere
in den klassischen Epochen, in denen das Ausgeglichene im Mittelpunkt stand, von zentraler
Bedeutung. Und auch die Abstraktion des 20. Jahrhunderts nutzte das Quadrat. Spontan
fallen Namen wie Kasimir Malewitsch, Paul Klee und Josef Albers ein.
Marlies Müller-Kaufmann ist sich der Geschichte, der Bedeutung und der Wirkung des
Quadrats sehr wohl bewusst. Das quadratische Format bzw. die Wiederholung der
quadratischen Struktur als Kompositionsmerkmal verleiht auch ihren Bildern einen nach
außen geschlossenen und ausgeglichenen Charakter, doch im Inneren des Bildgevierts
nehmen wir deutlich die Veränderungen, den Wandel wahr, denn das Kleinkarierte löst sich
von links nach rechts in der Bildfolge auf.
Eine andere malerische Position begegnet uns in den vier Arbeiten von Antje Prager-
Andresen. Während die gegenstandslose Malerei ausschließlich formale Probleme der
Malerei behandelt, also die Frage, wie man Farbe in der Fläche organisiert, um ästhetische
Ergebnisse zu zeitigen, verliert die Abstrakte Malerei nicht die Wirklichkeit der realen Dinge
aus den Augen. Sie orientiert sich an der Wirklichkeit und versucht, diese zu befragen und zu
interpretieren. So sind auch für Antje Prager-Andresen die Natur, die konkrete Umgebung,
die Landschaft Ausgangspunkte ihrer Kunst.
Ihre Acrylbilder entstehen in der Interaktion von bewusst gesteuerter malerischer Umsetzung
von Realität und unbewusst empfundener Wirkung dieser Realität. Die Künstlerin überlässt
sich im Malprozess immer mehr der Wirkung und den Anforderungen der Farbe.
Bei dem Auftrag des Pigments offenbart Farbe ihr Wesen und ihren Charakter. In ihr ruhende
Kraftreserven werden freigelegt und wirksam. Das Farbpigment ist immer körperlich, ist
immer ein Phänomen, das es zu beseelen gilt. Dann wächst die Farbe über ihre Tiefe nach
vorn und hinten, nach oben und unten hinaus in die Anteilnahme des Raumes hinein und
kann ihre Stimmung entfalten.
Das Thema der vier Elemente greift Ernst Ewers zum Rode mittelbar in seinen plastischen
Arbeiten auf. Die Neugier auf eine für ihn neue Technik, das Schweißen, sowie die Hingabe
und Entzückung etwas entdeckt zu haben, das Gesehene weiterzuträumen und in neue
Kontexte, neue Objektformen zu bringen, ist der Reiz, der die künstlerische Hand in
Bewegung setzt. Ernst Ewers zum Rode benutzt die Dinge und Fundstücke seiner Wahl
nicht als Readymades in einem puristischen Sinn, d.h. dass die Gegenstände ohne Eingriff
des Künstlers zum ästhetischen Objekt ernannt werden. Sondern er arbeitet mit ihren
plastischen, formalen Eigenschaften, und bearbeitet sie handwerklich, d.h. mittels
Schweißtechnik. Altgedientes wird zu neuem Leben erweckt, erhält ein zweites Dasein in
gewandelter Funktion und Form. Damit gibt er den scheinbar toten Dingen ihre sinnlich-
physische Präsenz zurück und erweckt sie zum neuen Leben: wir sehen einen Vogel, eine
Flamme, die Welle oder auch die Tektonik von sich verschiebenden Erdplatten. Die vier
Ausstellungsstücke stammen aus einer Reihe mit insgesamt 16 Arbeiten, die wir in den
Fotos dokumentiert sehen.
Mit vier Elementen beschäftigt sich auch Claudia Becker . Bubbles, Waves, Leaves, Heat
lauten die Titel ihrer Arbeiten, wobei es sich um zufällige Ausschnitte von Leben und Natur
handelt. Die perlenden Luftblasen, die Welle, die aus dem Meer heranrollt, Blätter im
Herbstwind und das Feuer, das in Flammen lodert. All’ diese Naturerscheinungen sind in
einen Formzusammenhang gebracht, sind quasi gerahmt von einer Form, die jedoch offen ist
für Veränderung. Die klassische Schmuckform lässt Claudia Becker unkonventionell werden,
in dem sie das Schmuckstück eine Metamorphose durchmachen, es zum Bild, eingefasst in
einen visuellen und thematischen Kontext, werden lässt. Die Inhalte der Form können
teilweise ausgetauscht werden sowie die Ketten selbst auswechselbar sind.
Damit nimmt sie Bezug auf den natürlichen Schöpfungsprozess. Nichts ist für ewig
unveränderlich, alles ist Leben, das heißt: Werden und Vergehen.
Das Vergehen, das allmähliche Verschwinden und Vergessen thematisiert Norbert
Feldhues in seiner Serie von Druckgrafiken. Es sind Spuren, Relikte, Überreste der
Vergangenheit, die er während seines Wanderurlaubs in Dolomiten vor vielen Jahren
aufgespürt hat. Es handelt sich um Blechstücke aus den ehemaligen Schützengräben und
Unterständen auf den Höhen des Karnischen Kamms. Erste experimentelle Drucke von
solchen Blechstücken stammen aus dem Jahr 1995. Das Thema Vier hat ihn dazu motiviert,
eine neue Serie von farblich variierenden Prägedrucken zu erstellen.
Der Begriff Graphik wird im allgemeinen Sprachgebrauch sehr unterschiedlich ausgelegt und
verstanden. Die enge Begriffsverwendung beschränkt sich jedoch allein auf die künstlerische
Druckgraphik, deren Vervielfältigungscharakter häufig als das eigentliche Wesen des
Bilddrucks betrachtet wird, was immer wieder zu einer Abwertung gegenüber anderen
Kunstgattungen führt. Ganz zu unrecht, denn im Entstehungsprozess der Graphik, beim
Ritzen in Lack, Wachs oder Metall und auch während des Druckens, besteht die Möglichkeit,
zu revidieren, hinzuzufügen, zu überdrucken, vorhandene Spuren zu tilgen oder Ungewolltes
auf der Druckplatte zuzulassen, um so ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten und Wirkungen
zu erzielen. Aber Nobert Feldhues will gerade nicht die Spuren tilgen, sondern sie
künstlerisch nutzen, um sie damit über die Zeit zu konservieren und der abnehmenden
Erinnerung Einhalt zu gebieten.
Nicht um die Geschichte, sondern um Geschichten geht es in den Objektkästen von Ulrike
Blindow . Ausgangspunkt sind vier Gedichte von Joachim Ringelnatz: Bumerang,
Übergewicht, Der Briefmark und Tante Qualle und der Elefant. Ein künstlerisches Werk kann
als erzählerisch gelten, wenn es mit narrativen Elementen arbeitet. Und diese Elemente setzt
Ulrike Blindow in einer Weinkiste zu einer Geschichte zusammen: der Bumerang, der über
den Wolken schwebt; der voluminöse Wal, der auf einer Briefwaage feststellen muss, das er
Übergewicht hat; der Briefmark, der sich in die Prinzessin mit dem rotgeblümten Herz
verliebt hat; oder die Qualle und der Elefant, die sich mittels Magnet innig küssen. Als
Hintergrundfolie dienen jeweils Aufnahmen aus Schottland, so begründet sich auch der Titel
„Summer Isles“.
Und in diese narrativen Kontexte eingebunden, als selbständige, autonome Objekte, sind die
Schmuckstücke, die Ulrike Blindow designt hat: eine Brosche mit vier Repräsentanten der
Ethnien der Weltbevölkerung, ein Ohrring im Bauch des Wals, eine Kette, mit den Kindern
von Qualle und Elefant, die der rotbeinige Klapperstorch in einem Extrakästchen gebracht
hat.
Antithetisch zur filigranen Verspielheit der Arbeiten von Ulrike Blindow entwickelt der
„Elfenbeinturm“ von Irene Peil seine raumgreifende Wirkung. Die Künstlerin präsentiert uns
vier Stoffbahnen in entwaffnender Einfachheit. Ziel ist es, alle überflüssigen, immanenten
Beziehungen aus der Skulptur herauszunehmen und den Fokus auf ihre Beziehung zum
Raum und zum Betrachter zu verschieben. Die Anordnung funktioniert fast wie eine
Choreografie, die den Raum und den umgebenden Exponaten einbezieht.
Die Arbeit wurde in situ realisiert, hier für den Raum geschaffen und direkt vor Ort entwickelt,
d.h. genäht. In ihrer weißen Farbigkeit und der vertikalen Ausrichtung ahmen die Stoffbahnen
jene Linien nach, die die vier Seiten des Raumes tatsächlich bilden, um so einen weiteren,
bisher unbekannten Raum im Raum zu schaffen, dessen Wahrnehmung uns die Künstlerin
anempfiehlt: wir sollen den Raum betreten und den Blick emporrichten und uns
herausgefordert fühlen von den Worten: Die Gedanken sind frei.
Als Kunstformen stehen, liegen oder hängen die hier gezeigten Bilder, Installationen, Objekte
in einer Welt mit drei Raumdimensionen, doch kommt in allen Werken noch eine weitere,
eine vierte Dimension hinzu: die Zeit.
Im Gegenstand, im Kunstwerk, in den Objekten selbst wird Zeit sichtbar: in ihrer Materialität,
in der Stofflichkeit der Bilder und Objekte, in den einzelnen Arbeitsschritten ihres Entstehens,
das sich seit der Festlegung des Thema Vier fast über ein Jahr erstreckt hat, aber auch in
der symbolischen Aussage zur Zahl Vier – und in unserer eigenen Betrachtungszeit.
Und es wird wieder einmal deutlich: Alles Sehen ist nicht Passives, sondern aktive visuelle
Handlung, also Sehzeit, und alles, was ein Kunstwerk ausmacht, ist eine Kräftekonfiguration,
die auf uns Betrachter während der Sehzeit wirkt.
Dr. Andrea Brockmann